von Bernadette Neuwirth
Vor und während Corona - Hannahs Bruder Samuel war im Sommer vor Corona auf die Welt gekommen - erreichten meine Frustration, Erschöpfung und Angst ihren Höhepunkt. Ich war so müde, dass ich nicht mehr wusste, woraus ich Kraft schöpfen sollte. Beten, Malen, Lesen? Fehlanzeige, zu erschöpft. Ich fühlte mich machtlos im Alltag, schämte mich für mein Aussehen, meine Worte und Taten. Ich wollte einfach nur heraus aus meiner Haut. Meinen Glauben betrachtete ich wie durch eine angelaufene Glasscheibe, total verschwommen, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Ich stieß an und wusste nicht mehr weiter.
So hoffte ich auf ein Wunder. Wie wäre es mit einer übernatürlichen Erscheinung eines Engels, der mir den Weg weist? Oder wenigstens ein bahnbrechender Traum? Aber Gott wählte einen anderen Weg.
„Ich glaube, Hannah hat zu wenig Grenzen. Sie hat zu viele Freiheiten.“
Die Worte einer lieben Freundin, ebenfalls Mama, ließen mich wie aus allen Wolken fallen. Das Zuviel an Freiheit und die von ihr zu treffenden Entscheidungen würden meine Tochter überfordern (Anm.: Hannah ist 4 Jahre alt). War sie deshalb so over the top? So schrill und ausgelassen? So übermütig? Gehörte das nicht zu ihrem Charakter? Zumindest dachte ich das die ganze Zeit...
Dabei hatte ich doch mein Bestes versucht. Ihr vieles ermöglicht. Sie ermutigt. Zu vielem „Ja“ gesagt. Mit ihr auf Augenhöhe gesprochen. Aber Grenzen? Dieses Wort war mir völlig neu.
Eben diese Worte stießen einen Prozess in mir an, mich mit meiner eigenen Kindheit auseinanderzusetzen. Ich stellte fest, dass das Wort „Nein“, Grenzen und Regeln praktisch nicht vorhanden gewesen waren, als ich selbst ein Kind war. Jesus sagt: „Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!“ (Mt 5,48) und bezieht sich dabei auf die Feindesliebe. Ich bezog die Aufforderung, vollkommen zu sein, auf mich und setzte es mit Perfektion gleich. Ich wollte doch so gern vollkommen sein. Die liebende Mama, die immer für ihr Kind da ist. Großzügig. Verständnisvoll, fürsorglich, tröstend. Dieses Bild von Vollkommenheit, das ich direkt und ohne Hinterfragen aus meiner eigenen Kindheit übernommen hatte, trug ich in mir. Und bis vor Kurzem hatte ich ebenso an meiner Tochter gehandelt. Dieses Bild sah von außen recht nett und aus, aber es fehlte etwas.
Dieses Bild, von dem ich annahm, dass Gott so war, war verzerrt. Denn Jesus erlaubt nicht bloß Dinge und lässt gewähren. Er ist nicht nur sanftmütig, sondern hat Autorität in Wort und Tat. So gebietet er beispielsweise dem Sturm, sich zu legen (Mt 8,26). Jesus ist nicht nur das Lamm, sondern auch der Löwe. Liebe und Grenzen schließen einander nicht aus, im Gegenteil. Hätte Gott in der Schöpfungsgeschichte nicht die Gegebenheiten eingegrenzt, getrennt und geordnet (Gen 1), gäbe es immer noch ein Tohuwabohu. So bildet der Rahmen einen Raum für Freiheit. Und so begann ich, einen Rahmen aufzubauen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass Er mir diese und eine weitere Mamafreundin mit ihren Worten geschickt und an meine Seite gestellt hat. Durch sie sprach und spricht der Herr in mein Leben hinein.
Was hat sich in meinem Inneren seit der ganz oben angeführten Worte verändert?
Ich habe gelernt, auf alte Lebens-und Denkmuster zu schauen und sie zu durchbrechen.
Ich habe erkannt, dass ich eine Stimme habe (vgl. Hld 2,14) und dass ich „Nein“ sagen darf. Liebe ist nicht immer angenehm und kuschelweich und unterscheidet klar zwischen Bedürfnissen und Wünschen. (Beispiel: Eine vierte Portion Eis ist kein Bedürfnis. Geliebt zu werden und
Dazuzugehören schon.)
Ich konnte die Angst, die Kontrolle in Situationen mit meiner Tochter zu verlieren, aufdecken sowie die Scham, nicht gut genug und lächerlich zu sein.
Ich habe mich verletzlich gemacht, in dem ich im Gespräch und in meinem Verhalten meine Schwächen zeige und sie benenne. Ich bringe sie ans Licht, im Vertrauen, dass ich gut aufgehoben bin. Dadurch habe ich zu einer mir ganz neuen und noch nie dagewesenen Stärke gefunden, jenseits von Perfektionszwang und Scham.
Seit ich meinen Kurs geändert und mehr mit dem Wort „Nein“ und Grenzen und Regeln den Alltag vorlebe, bin ich ausgeglichener geworden, ebenso meine Tochter, da mein Geerdetsein sich auf sie überträgt.
Diese Vollkommenheit, von der Jesus spricht, meint nicht die Perfektion und die Anstrengung, sondern Leben aus ganzem, tiefsten Herzen. Und eben dieser Lebensstil bringt die Vollkommenheit Gottes zutage, gerade dort, wo wir unvollkommen sind, vergleichbar mit zerbrochenem Geschirr, das mit Gold wieder repariert wird (jap. Kintsugi) und schöner und wertvoller ist als je zuvor. Und das beruhigt mich sehr.
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